Astrid Lindgren (1907-2002)

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Astrid Lindgren 1960; Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

„Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.“

NIEMALS GEWALT! Unter diesem Motto steht die Rede, die Astrid Lindgren in der Frankfurter Paulskirche hält, als ihr 1978 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wird. Die berühmte Schriftstellerin setzt sich hier wie in ihrem gesamten Leben und Werk für Kinderrechte ein und plädiert für eine gewaltfreie, unautoritäre Erziehung.

Der Friedenspreis ist nur eine von unzähligen Auszeichnungen, die die Autorin ab den 1950er Jahren erhält. Dabei sind der schwedischen Bauerntochter Ruhm und Ehre nicht in die Wiege gelegt. Als Astrid Ericsson wird sie am 14. November 1907 auf dem Pachthof ihrer Eltern im südschwedischen Småland geboren. Sie wächst mit drei Geschwistern auf und beschreibt später ihre Kindheit als „geborgen und frei“.

Geborgen fühlt sie sich in der Familie, frei in den unberührten Wiesen und Wäldern der Umgebung, die unzählige Möglichkeiten zum Herumtoben und Spielen bergen. Wird die Autorin später nach ihrer Kindheit gefragt, gilt ihr erster Gedanke der Natur: „Steine und Bäume, sie standen uns nahe, fast wie lebende Wesen.“

Familie Ericsson, um 1915; hd.se, Public domain, via Wikimedia Commons

Die unbeschwerte, ländliche Kindheitsidylle, die später in vielen ihrer Werke auftaucht, findet für Astrid im Alter von 18 Jahren ein jähes Ende. Als Volontärin bei der Tageszeitung in der nahegelegenen Kleinstadt lässt sie sich auf eine Affäre mit dem Chefredakteur ein und wird schwanger. In dem bäuerlichen, konservativen Umfeld ist das ein Skandal, der mit allen Mitteln vertuscht werden muss, zumal der Vater des Kindes verheiratet ist. Astrid verlässt ihre Heimat, zieht nach Stockholm, bringt ihren Sohn Lars anonym in Kopenhagen zur Welt und muss ihn dort zu einer Pflegemutter geben, ehe sie nach Stockholm zurückkehrt und sich als schlecht bezahlte Sekretärin durchschlägt. Es sind einsame und unglückliche Jahre, fern von ihrer Familie und von ihrem Sohn, den sie nur besuchen kann, wenn das Geld für eine Fahrkarte nach Kopenhagen reicht.

Sture Lindgren; Svenska: okändEnglish: Unknown, CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0, via Wikimedia Commons

Erst als sie 1931 ihren Vorgesetzten beim Königlichen Automobilclub, Sture Lindgren, heiratet, kann sie Lars zu sich nehmen. Sie führt jetzt ein Leben als Hausfrau und Mutter und ist glücklich, als 1934 ihre Tochter Karin das Licht der Welt erblickt.

In den 1930er Jahren legen sich die Schatten der nationalsozialistischen Diktatur und des drohenden Krieges über ganz Europa. Astrid beobachtet die Entwicklung mit wachsender Sorge. Als Hitler 1939 in Polen einmarschiert, beginnt sie, ein Kriegstagebuch zu schreiben, das 2015 unter dem Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren erschienen ist und ein einzigartiges Zeugnis der Geschehnisse im 2. Weltkrieg darstellt. Erschüttert hält die Autorin in ihren Notizen fest, wie der Terror des NS-Regimes um sich greift, wie immer mehr Länder von den Kriegsgräueln erfasst werden und wie Europa allmählich in Schutt und Asche versinkt.

Vasapark, Stockholm, in der Nähe der Wohnung Astrid Lindgrens; Holger.Ellgaard, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Astrid, die trotz ihres geschliffenen Sprachstils und ihrer Liebe zur Literatur eigentlich nie Schriftstellerin werden wollte, erzählt ihren Kindern manchmal Geschichten, die sie selbst ersonnen hat. Als ihre Tochter im Winter 1942 krank im Bett liegt, drängt sie ihre Mutter, sich wieder eine Geschichte auszudenken. „Erzähl mir … erzähl mir von Pippi Langstrumpf“, fordert das Mädchen, und damit wird die berühmteste Kinderbuchheldin der Welt geboren. Aber erst zwei Jahre später, als Astrid sich auf den vereisten Straßen Stockholms den Knöchel verstaucht hat und zur Unbeweglichkeit verdammt ist, beginnt sie die Geschichte von dem rebellischen Mädchen aus der Villa Kunterbunt aufzuschreiben. Das Buch erscheint Ende 1945 und begründet den Weltruhm der Autorin, die fortan bis ins hohe Alter nicht mehr aufhören wird, zu schreiben. Mehrere Pippi Langstrumpf-Bände, Madita, Die Kinder aus Bullerbü, Karlsson vom Dach, Michel aus Lönneberga, Mio, mein Mio, Die Brüder Löwenherz und Ronja Räubertochter sind nur einige Beispiele aus dem umfangreichen Werk Astrid Lindgrens.

Writung; Free-Photos via pixabay

Die Schriftstellerin wird im Alter von 45 Jahren Witwe und lebt von da an allein. Das Schreiben hilft ihr über manche Krise hinweg und wird zum Ventil für ihre oft melancholische Stimmung. „Ich habe oft in traurigen Momenten meines Lebens zu schreiben begonnen“, sagt sie in einem Interview. Sie erleidet viele Verluste, die sie nur schwer überwinden kann. Nach ihrem Mann sterben ihre beiden Eltern, ihr Bruder und eine Schwester, viele Freunde und schließlich auch ihr Sohn Lars, der nur knapp 60 Jahre alt wird. Aber nicht nur persönlicher Kummer, auch gesellschaftliche und politische Verhältnisse bedrücken die Autorin und veranlassen sie, sich öffentlich gegen Missstände einzusetzen. Sie kämpft gegen Atomenergie, setzt sich für Flüchtlinge ein, engagiert sich gegen Stall- und Massentierhaltung und fordert eine gerechtere Steuerpolitik in Schweden. Am wichtigsten bleiben ihr aber die Rechte von Kindern und ihr Plädoyer für eine empathische, gewaltfreie Erziehung. „Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die guten Manieren von allein“, hat sie einmal geschrieben.

Trotz ihrer enormen Prominenz bleibt die Autorin ihrem bescheidenen Lebensstil treu und lebt über sechzig Jahre lang in der gleichen Stockholmer Mietwohnung. Dort stirbt sie auch, 94 Jahre alt, am 28. Januar 2002.

Ihrem Trauerzug folgen Hunderttausende von Menschen, darunter das schwedische Königspaar, die Kronprinzessin, der Ministerpräsident und fast die gesamte Regierung. Die Schriftstellerin wäre von diesem Spektakel vermutlich wenig beeindruckt gewesen. Als man sie einmal fragt, was der Ruhm und die Begegnung mit wichtigen Persönlichkeiten ihr bedeute, antwortet sie: „Für mich ist das kein Unterschied, ob es eine Königin ist oder eine Putzfrau. Ich sehe sie als die Kinder, die sie waren. Ich bin Astrid aus Småland, eine Bauerntochter von Anfang bis Ende.“

Astrid Lindgrens Grabstein; Prussiluskan, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

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